Das Wiedersehen mit Mike

12. Juni 2025

«Jana! Jana! Hier bin ich!» Jana drehte sich um. In der Ecke der Eingangshalle des Flughafens entdeckte sie ihre beste Freundin Elisa, die ihr heftig zuwinkte. Jana nahm ihren Koffer und lief ihr entgegen. Sie umarmten sich überschwänglich. Fast ein Jahr war seit ihrem letzten Treffen vergangen. «Ich freue mich so, dass du zurück bist!», sagte Elisa. «Ich freue mich auch, dich endlich wieder zu sehen!», antwortete Jana. «Du musst mir unbedingt alles erzählen!» «Okay», lachte Elisa: « wo fange ich am besten an?…»

Jana freute sich sehr, ihren Bruder wieder zu sehen. Wie er wohl war, fragte sie sich. Hat er sich sehr verändert? Sie hatten, seit sie gegangen war, kaum mehr Kontakt zueinander gehabt. Sie hatten sich noch wenige Male geschrieben, kurze, flüchtige Nachrichten. Obwohl sie eigentlich immer ein gutes Verhältnis gehabt haben. Jana betrat die Kneipe, in der sie sich verabredet hatten. Es war etwas düster und stank nach Zigarrenrauch. Hinter dem Tresen stand ein alter Mann mit Glatze und Tattoos, der gerade Bierkrüge polierte. In der Ecke sah sie ihren Bruder sitzen. Er sah anders aus. Seine Haare waren nun schwarz und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Jana begrüsste ihn mit einem leisen «Hey».
«Hey», erwiderte Mike. «Schön, dich wieder zu sehen.» Jana setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Mike. Sie umklammerte die Tasche, die auf ihren Beinen lag, und lächelte angestrengt. Es bereitete sich eine unangenehme Stille zwischen ihnen aus. Jana musterte ihn. «Du hast dich verändert», sagte sie schliesslich, um die Stille zu unterbrechen. Mike zuckte nur mit den Schultern. «Wir haben uns ja auch lange nicht mehr gesehen.»
«Und… was machst du so?», fragte sie. Selbst in ihren Ohren klang ihre Stimme fremd. «Ähm, nun…» Er schwieg für einen Moment. «Nicht viel». Er zuckte erneut mit seinen Schultern und trank einen Schluck Bier aus seinem Krug. «Ich bin ja gerade wiedergekommen von meiner Reise. Es war so toll! Einmal war ich sogar…».  Mike unterbrach Jana plötzlich. «Hör zu, ich brauche dringend deine Hilfe.»
«Wozu?», fragte Jana zögerlich.
«Nichts grosses, nur… etwas finanzielle Unterstützung.» antwortete Mike etwas verlegen.
«Was hast du gemacht?»
Langsam wurde Jana etwas ungeduldig. Warum sagt er mir nicht, was sein Problem ist! Dachte sie sich.
«Ich habe etwas gefunden, ein… Casino. Du musst mir vertrauen, ein Kumpel von mir hat dort richtig abgesahnt. Wenn ich ein bisschen Startkapital hab. Ich…ich zahl’s dir auch zurück, wirklich!
Jana liess ihren Blick leer durch den Raum schweifen. Sie war gerade etwas überrumpelt von der Situation. So etwas hätte sie von ihrem Bruder nicht erwartet. Zögerlich erhob sie die Stimme: «Mike…ich habe auch kein Geld, nicht mal eine eigene Wohnung. Ich wohne vorübergehend bei Elisa, aber das ist keine Dauerlösung.»
«Nur ein kleiner Betrag wirklich, du musst mir nur vertrauen.» «Nein! Ich werde dir auf keinen Fall Geld geben, schon gar nicht damit du es dann im Casino verzocken kannst!»
Janas stimme wurde lauter. Sie stand auf und schob energisch den Stuhl an den Tisch zurück.
«Jana! Warte… hör mir doch zu! Es ist nicht so, wie es sich anhört!», Mike wirkte verzweifelt.
«Nein, ich gehe jetzt! Ich dachte, ich kenne dich, aber anscheinend doch nicht!», sagte Jana, drehte sich energisch um und verliess die Kneipe. Draussen atmete sie tief ein. Die kühle Luft füllte ihre Lungen, während sie langsam zu realisieren begann, was gerade geschah.

«Ich bin wieder da!», sagte Jana, während sie sich die Schuhe von den Füssen streifte.
«Ah, hallo Jana, ich habe uns gerade Abendessen gemacht, Nudeln mit Pesto. Ich hoffe, das passt für dich», rief Elisa aus der Küche.
«Danke, das ist super», antwortete Jana.
«Und wie war das Treffen mit Mike?», fragte Elisa.
«Es war schrecklich! Er will, dass ich ihm Geld gebe, weil er glaubt, er kann es besser investieren», antwortete Jana.
«Was hast du dann gesagt?»
«Natürlich kann er kein Geld von mir haben! Ich habe ja auch gar kein Geld, dass er haben könnte.»
«Stimmt. Wirst du dich dann noch einmal mit ihm treffen?»
«Ich weiss es nicht, weil einerseits will ich nicht mit jemandem zu tun haben, der so verantwortungslos handelt, andererseits mochte ich die Person, die er früher war, sehr gerne, und vielleicht wird es wieder so wie früher. Ich habe ihn ja nur kurz gesehen.»
«Ich denke, du solltest ihm noch eine zweite Chance geben. Er ist schliesslich dein Bruder.»
«Ja, stimmt. Vielleicht treffe ich mich doch noch einmal mit ihm. Er hatte bestimmt nur einen miesen Tag.»

Wie Mike heute wohl drauf sein wird, fragte sich Jana. Sie hoffte, dass sie heute ein etwas angenehmeres Gespräch führen könnten. Sie öffnete die Tür des Cafés. Dieses Mal hatte sie das Lokal ausgewählt, damit sie nicht wieder in so einer ranzigen Kneipe sitzen musste. Sie ging rein, bestellte sich einen Kaffee und setzte sich an einen freien Tisch in der Mitte des Raumes. In diesem Moment betrat ihr Bruder das Café. Er trug eine schwarze, ausgewaschene Jogginghose und ein graues T-Shirt. Er setzte sich zu ihr an den Tisch.
«Kannst du mir Geld leihen?», sagte er zur Begrüssung.
«Ich dachte, wir könnten uns vielleicht auch über andere Dinge unterhalten», antwortete Jana mit eiserner Stimme. Sie hatte so gehofft, dass er nicht wieder mit diesem Thema kommt, doch sie wurde enttäuscht.
«Bitte! Du bist meine Schwester», seine Stimme klang verzweifelt.
«Eben, deine Schwester, nicht dein Bankautomat.»
Mike atmete genervt auf.
«Ich habe dir doch schon gesagt, wie wichtig das für mich ist.»
«Nein, ich werde dir kein Geld geben, egal, was du sagst. Für so einen Unsinn werde ich dir nichts geben!», antwortete Jana.
Mike stand energisch auf. Der Stuhl fiel rückwärts um, Jana konnte Mikes Wut förmlich spüren. Er drehte sich um und sagte:
«Du wirst sehen, ich kriege mein Geld schon noch, wenn auch nicht von dir!», bevor er davonstolzierte.

«Hier, ein Brief für dich», Elisa streckte ihr einen weissen Briefumschlag entgegen. Jana nahm ihn entgegen. Von wem der wohl ist, fragte sie sich. Sie ging in die Küche und setzte sich an den Tisch, um den Brief zu öffnen. Danach begann sie zu lesen:

Sehr geehrte Jana Fischer

Mike Fischer wurde des Mordes und anschliessenden Diebstahl angeklagt. Sie werden hiermit eingeladen am 27.5. 2025 um 08:30 Uhr, als Zeugin auszusagen. Da sie laut Aussage des Angeklagten die letzte Person sind, die Mike Fischer vor dem Vorfall getroffen hat.

Mit freundlichen Grüssen
Regionalgericht Bern-Mittelland

Ihre Hände zitterten, als sie den Brief langsam wieder in den Umschlag legte. Sie atmete flach ein und aus, bevor sie leise flüsternd sagte:
«Nein, das kann ich nicht glauben!»